Verständlich, dass die Terroranschläge von Paris nicht nur die Nachrichtenlage, sondern auch das Social Web dominierten. Aber auch Terroristen können die Welt nicht davon abhalten, sich weiter zu drehen: Wirtschaft und Politik sabotieren gemeinsam den technischen Fortschritt im Lande, Facebook will Trost spenden und Adele will nicht gestreamt werden. Und oben drauf gibts auch noch Tipps für die Resteverwertung des Festtagsbraten. Keine ruhige Vorweihnachtszeit – bitte sehr, der November.
Paris – Bringen wir erst einmal den dicksten Brocken hinter uns – die Terroranschläge von Paris. Die Netzwerke, allen voran Facebook, haben mit voraussehbarer Routine reagiert: Profilbilder entweder in den Farben der Tricolore koloriert oder mit einem kollektiven Symbol versehen – wie in diesem Fall der stilisierten Verschmelzung von Peace-Zeichen und Eifelturm des Künstlers Jean Jullien. Alles, was irgendwie Paris-related ist, wurde als Solidaritätsbekundung gepostet.
Facebook aktivierte direkt wieder seinen mittlerweile mehrfach erfolgreich eingesetzten „Safety Check“, mit dessen Hilfe Freunde, welche sich in Paris aufhielten, anzeigen konnten, ob sie in Sicherheit sind. Google Maps lieferte Übersichten der Anschlagsorte, nebst geo-getaggten Information – und platzierte den Hauptsitz des IS aus Versehen ins Bataclan. Twitter, Vine und Instagram hatten die Augen dort, wo so schnell keine TV-Kamera Stellung beziehen konnte, und half der pariser Gemeinde, sich schnell zu vernetzen. Die Social-Media-Maschine lief wie geschmiert. Dass einzelne User, die die Buchstaben ISIS im Namen trugen, stellenweise auch für Terroristen gehalten wurden, verbuchen wir mal unter der bekannten Betriebsblindheit der Netzwerke.
Interessantes Detail: Als Brüssel auf der Terroristensuche den Ausnahmezustand ausrief und die Menschen sich nicht mehr frei bewegen konnten, reagierten die einheimischen Netzlinge unter #BrusselsLockdown mit Humor – und zwar Katzenbildern. Eine weitere humorige Reaktion auf den Terrorismus, verbreitete sich von 4Chan aus: Auf Propagandabildern des IS wurden die Köpfe der Terroristen mit Enten verzieren. Das haben wir schon mal gesehen, und zwar als die ersten Japaner dem IS zum Opfer fielen und Terroristen in Manga-Szenen gephotoshopped wurden. Damit haben wir wohl ein festes, soziales Pattern der jetzigen Netzgeneration gefunden.
National emergency? Belgium responds with cats. #brusselslockdown https://t.co/m9LaSjn252 pic.twitter.com/jY4NmSRHML
— SimonNRicketts (@SimonNRicketts) 23. November 2015
Bildsprache – Das Wort des Jahres ist… ein Emoji. Nein, kein Scherz: Niemand geringeres als der altehrwürdige Oxford Dictionary Verlag, hat das Tränen-lachende Emoji zum Wort des Jahres 2015 gewählt. Die Begründung leuchtet ein, bestehen in Zeiten von WhatsApp und FB-Messenger viele Nachrichten wirklich nur noch aus Bilderrätseln. Vielleicht bringt der Verlag demnächst ja ein Emoji-Lexikon raus.
Teure Verehrung – Wer schon mal bei einer SciFi-Convention war, weiß, dass Autogramme von Stars teuer werden können. Selbiges gilt heute anscheinend auch für Selfies mit Stars: Bei Justin Bieber kostet laut Mashable ein Selfie mit Star $ 2000. Na, das kann doch mal Wertschätzung der eigenen Fans genannt werden.
(Maul)Helden des Internets – Nach den Anschlägen von Paris meldeten sich auch Anonymous zu Wort und erklärten dem IS dann auch mal den Krieg. Wer vielleicht unter leichter Netzdemenz leidet, dem sei ins Gedächtnis gerufen, dass das nicht die erste Kriegserklärung des Kollektivs ist. Social-Accounts hacken und DDoS-Attacken auf mittelsichere Web-Sites, mit medium-ideologischem Habitus – das können die Anarcho-Nerds ja. Aber signifikanten Schaden bei einem Konstrukt wie dem IS anrichten – eher nicht. Na ja, es schien aber auch nicht so, als hätten sonderlich viele Leute die Kampfbereitschaft der Nerdlinge für voll genommen.
Lebkuchen mit Hack – Apropos Hacker: Die Seite eines Weihnachtsmarktes in Friedrichsdorf wurde von der sogenannten Mujahidin Cyber Army gehackt – und die haben ausdrücklich nichts mit dem IS zu tun. Den gleichen Stunt hat diese merkwürdige Gruppierung auch auf zahlreichen Seiten in den USA, Indien und Russland vollzogen. Dabei so gefährliche Spieler wie eine Kunstglas Firma und eine Kakao-Fabrik. Halten wir mal fest: Wenn wir hören, da wurde etwas gehackt, sollten wir vielleicht erst mal differenzieren. Denn neben vielen wirklich gefährlichen Cyber-Terroristen, gibt es auch unzählige Spinner, für die das Kapern von Seiten eher ein Sport ist. Für eine Differenzierung wäre hilfreich gewesen, sich fragen, wieso die meisten Social-Accounts der Aktionisten (Facebook, g+, Twitter, YouTube), sowie das Blog noch aktiv sind. Unterm Strich läasst das nur folgenden Schluss zu: Izza Mujahid, der wahrscheinlich hinter dieser Cyber Armee steckt, ist schlichtweg ein Hacker, der als Content Bilder von der Zerstörung und dem Leid in Syrien verwendet. Also vermutlich kein gefährlicher Terrorist, sondern einfach ein Hacker unter vielen, die von der komplexität der Alltagsrealität etwas verwirrt zu sein scheint.
Emotionale Anpassung – Facebook will Trosthilfe für gebrochene Herzen anbieten: Verändert sich der Beziehungsstatus (zum Negativen), soll das Netzwerk automatisch vorschlagen, den eigenen Newsfeed von Bildern und Beiträgen der/des Verflossenen frei zu filtern. Die Funktion wird zwar noch getestet, aber so richtig durchdacht ist das nicht: Zum Einen ist es erst mal fraglich, ob man in diesem Fall auch auf Facebook befreundet bleibt. Wenn doch, kann man auch die Benachrichtigungen unterdrücken. Und wenn man der sitzengelassene Teil einer Ex-Beziehung ist, tendieren viele eh zum schubweisen Cyber-Stalking – und das kann so eine Filterfunktion auch nicht verhindern. Eine Funktion, die in diesen Fällen aktiv empfiehlt, den Rechner auszumachen, rauszugehen und sich abzulenken, wäre sinnvoller – aber auch unwahrscheinlich.
Charity Wally – In den USA heißt er Waldo, in Frankreich Charlie, in Dänemark Holger, in Italien und dem britischen Original Wally, in Norwegen Willy und bei uns Walter. Ein nicht näher bekannter Brite hat die Kinderbuch-Figur nun via Instagram zum leben erweckt und auf eine touristische Foto-Reise geschickt. Der tiefere Sinn: Der Instagram Account führt zu einer gofoundme-Seite, welche Geld für einen Wally Charity Kalender 2016 sammelt. Die Erlöse würden an Clic Sargent gehen, eine Organisation, welche krebskranke Kinder und junge Erwachsene unterstützt. Leider hat die Crowdfunding-Kampagne bis dato nicht gefruchtet – 500 Pfund von erhofften 2.500 sind leider nicht erfolgreich. Und das, obwohl Wallyfound mittlerweile seine Media-Zeit hatte. Glücklicherweise ist diese Organisation nicht nur auf eine einzelne Kampagne angewiesen, sondern veranstaltet mehrere Events jeden Monat.
Streaming Krise? – Streaming-Dienste haben aktuell ein echtes Problem: Kleinere Künstler geben sich dem Trend hin, obwohl sie wissen, dass für sie dabei nicht viel Geld herausspringt. Und die großen Künstler, die einen Unterschied machen könnten und das Schiff erst rentabel machen, lehnen zunehmend diese Verbreitungsform ab. Taylor Swift kehrte Spotify den Rücken und es hat Apple Music einiges gekostet, sie zu gewinnen: Swift erreichte mit ihrem Protest, dass sich die Bedingungen für alle Künstler zum Positiven veränderten – und nannte in dem Zuge Spotify ein Startup ohne Cash-Flow, was sich wie eine riesige Konzern-Maschine aufspiele. Adele machte letzten Monat den Sack ganz zu: In der ersten Woche verkaufte Sie 3,4 Mio. Einheiten ihres neuen Albums – und das nur in Downloads, CDs und Vinyls, ganz ohne Streaming. Und das ist ein echtes Problem, denn wenn sich die entscheidenden Künstler weigern, die Cash-Cows für das Streaming zu spielen, wird sich dieses Konzept auch nicht rechnen. Und das heißt: Streaming könnte bald zu einer Fußnote der Musikgeschichte werden. Es wäre aus vielen Gründen nicht das Schlechteste.
Gummi übern Kopp – Und der Preis für die dämlichste Challenge des Monats geht an #condomchallenge: Man fülle ein Kondom mit Wasser, verschließe das Präservativ und lässt es dann auf einen Kopf fallen. Wenn es glückt, platzt das Gummi nicht, sondern stülpt sich wie ein Aquarium über den Kopf. So albern diese Challenge auch ist, es dokumentiert die Reißfestigkeit von Dr.Blausiegel und seinen Freunden. Und wir lernen auch: Nicht jedes Craze wird automatisch zum Hit. Redundanz ist eben kein Erfolgsgarant.
https://youtu.be/gLcRfvpeaXs
Fortschritt ermogeln – Vectoring ist eine Technologie, mit deren Hilfe man aus alten Kupferleitungen ein höheres Datentempo herauskitzeln kann. Für die Pläne, diese Technik in Deutschland auszubauen, erhielt die Telekom nun grünes Licht von der Bundesnetzagentur. Die Konkurrenz schlägt Alarm, denn durch das Vorhaben würden sie den Zugang zu den entscheidenden 8000 Verteilerstellen verlieren. Der Grund, wieso die Politik der Telekom dabei in die Segel bläst, ist weitaus beunruhigender: Wenn man die alte Infrastruktur durch das Vectoring „pimpt“, erhöhen sich automatisch die Kosten für einen echten Breitbandausbau durch Glasfasernetze. Das kommt Alexander Dobrindt (CSU) zugute, welcher für das Regierungsversprechen steht, bis 2018 alle deutschen Haushalte mit 50 Mbit Anschlüssen zu versorgen. Da ein Glasfaserausbau bis 2018 ein schöner Wunschtraum bleibt, kann sich der CSU-Minister, mit Hilfe des Vectorings, eine schnellere Zielerreichung ermogeln und spart auch noch das Geld für einen echten Breitbandausbau. Was lernen wir daraus? Wenn uns in Zukunft ein bajuwarischer Lautsprecher wieder das Lied von Bayern, dem Land von Laptop und Lederhose vorsingen will – denken Sie dran: Das CSU-Laptop läuft noch mit einem 56k-Modem.
WLAN für alle – Viele Hotels, Bars oder Einkaufszentren haben bereits einen freien WLAN-Zugang für ihre Kunden. Doch Deutschland hinkt im internationalen Vergleich immer noch nach. Das liegt vor allem an der unklaren Rechtslage zu potentiellen Haftungsrisiken, die mit freien Zugängen aufkommen. Das ist der Streitpunkt, um den es im Änderungsentwurf des neuen Telemediengesetzes (WLAN-Gesetz) geht. Das Gesetz sähe vor, dass jeder Anbieter der freien Netze für einen Mißbrauch des freien WLANs in die Verantwortung genommen werden könnte. Der Bundesrat kann zwar nicht aktiv an der Gestaltung des Gesetzes mitarbeiten, aber er kann die Novellierung verzögern. Und das hat die Länderkammer nun auch getan und die Streichung der Störerhaftung gefordert. Erst die Sache mit der Bandbreite, jetzt die Hürden für freies WLAN – als Außerirdischer könnte man schon den Eindruck bekommen, Deutschland habe eine Fortschrittsalergie.
Resteverwertung – Der November ist in angelsächsisch-Übersee Thanksgiving-Saison. Besonders beliebt in dieser Zeit: Food-Videos, die sich der Verwertung der Festtags-Überreste (Thanksgiving-Leftovers) widmen. Das ist auch gut so, denn selbst das US-Landwirtschaftsministerium warnt, dass rund 35% der Truthähne in den Müll wandern. Mal ganz davon abgesehen, dass der Thanksgiving-Kult eine Mastindustrie hervorgebracht hat, die mittlerweile nur noch Riesen-Truthähne züchtet. Vor diesen Hintergründen, und den zynisch-historischen Gründen dieses Festes, sind diese kulinarischen Clips wohl das sinnvollste am ganzen Thanksgiving-Zirkus. Dieser Clip wirft aber auch noch andere Fragen auf – und Entschuldigung bitte für die Wortwahl: Was für einen Schrott hauen sich die Amerikaner da eigentlich in die Figur? Und wie konsumkorrumpiert muss man sein, um diese Zutatenliste als Überbleibsel zu etikettieren? Komisches Volk. Zumindest sind amerikanische YouTuber offensichtlich genau so peinlich wie unsere einheimischen Clip-Jokeys.
Vogelsterben – Eigentlich keine Meldung wert, aber ein schönes Negativ-Beispiel: meedia.de haben sich eine pro-Version des Twitter-Analysetools Follerwonk gekauft und herausgefunden, dass nur etwa 30% der User aktiv seien – die Zahl der Karteileichen steige unaufhaltsam. Dass Twitter viele inaktive User hat, ist ja nun keine Neuheit. Aber bei näherer Betrachtung sieht man, dass dabei eh nur die Top 100 Media-Accounts in Deutschland untersucht wurden. Ergo: Clickbaiting mit Daten-Journalismus auf boullevardesquer Prekariatsebene, welches verdächtig stark nach einem Advertorial eines Start-Ups riecht. Wenn mal wieder jemand fragt, woran der Journalismus in digitalen Zeiten krankt…
Spenden wirkt – Es war nur ein Experiment, aber es ist geglückt: Die App ShareTheMeal hat nur einen Zweck, und das ist, so oft wie möglich 40 Cent einzusammeln. Und 40 Cent ist genau der Betrag, den eine Mahlzeit für ein hungerndes Kind der sogenannten „Dritten Welt“ kostet. Die UNO testete die App zunächst nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Und dort konnte das Spenden-Programm seit Juni über 3 Mio. Mahlzeiten generieren. Erfolg genug, um die App nun global anzubieten. Gute Sache (s. Links zu den App-Stores auf der rechten Seite).
So wird’s gemacht – Und zum Abschluss noch eine kleine Lehrstunde aus Afrika: Eine Seuche wie Ebola in einem strukturschwachen, unsicheren Land der sogenannten „Dritten Welt“ in den Griff zu bekommen, gleicht dem Versuch, einen Mückenschwarm mit bloßen Händen zu fangen. Das westafrikanische Sierra Leone hat es geschafft. In Europa, Asien oder Amerika hätte man eine bedeutsame Pressekonferenz mit epischen Ansprachen inszeniert und sich der Leistung gebrüstet. In Westafrika verkündet die halbstaatliche Hilfsorganisation smac den Erfolg dagegen mit einer Party: Das Video zeigt Mitarbeiter der Seuchenbekämpfung, Ordnungskräfte und ganze normale Bürger des Landes, wie sie in Gesang und Tanz verkünden: Bye Bye Ebola.
Artikelbild: daveynin (flickr / Nutzungsbedingungen)