In den letzten Wochen wurden unsere Newsfeeds immer wieder von diesen vermeintlichen Live-Votings heimgesucht. Hund vs. Katze, Pizza vs. Pommes, Clinton vs. Trump oder wer am Ende den Eisernen Thron besteigen wird – Abstimmung mittels Reactions. Dass es sich dabei zumeist um Fakes handelte und natürlich keine Votes live gezählt wurden, war relativ schnell jedem bewusst. Aber damit ist die Geschichte noch nicht abgeschlossen. Was hinter den Live Votings steckt und in welchem Kontext wir sie einordnen dürfen: Eine kleine Bestandsaufnahme.
Facebook Live oder Playback?
Das Format heißt Live-Video. Wie oft es aber wirklich etwas live zeigt, ist der Knackpunkt. Früh bekannt gegeben, aber wenig beachtet, ist der Umstand, dass das gestreamte Material durchaus auch vorproduziert sein darf. Welche Blüten das treiben kann: Ende Oktober streamten mehrere Seiten „live“ von der Internationalen Raumstation ISS. Was sie wirklich streamten: Ein vermutlich mehrere Jahre altes, mehrstündiges Video. Das flog auf, als die NASA erklärte, dass der letzte Raumspaziergang am 1.September war. Aber da hatten diese Videos schon Views, Likes und Engagement in respektabler Höhe gesammelt.
Simulation des Machbaren
Vor diesem Hintergrund bedarf es keinen großen Erklärungen, wieso diese Live-Abstimmungen Mumpitz sind: Es handelt sich um vorproduzierte Videos, die im Loop abgespielt werden und lediglich den Anschein eines Live-Votings vermitteln.
Aber man muss fairerweise auch dazusagen: Nicht alle sind Fakes. Es ist nämlich durchaus möglich, Live-Feeds einzubauen. Und es gibt auch technische Lösungen, die das Zählen von Reactions im Live-Video ermöglichen. Nur bedeutet das natürlich auch einen weiteren Arbeitsschritt, der gerade bei der Massenproduktion, in der Summe, einiges an Zeit verschlingt.
Der neue Booster?
Die Live-Abstimmungen verbuchen wir erstmal nur als kreative Spielart, als cleveres Experiment für die Anwendung des Streaming-Tools. Aber was bringt dieser Trick nun zählbar. Online-Marketing-Rockstars haben den Selbstversuch gemacht. Ergebnis: Live-Votings sind ein beeindruckender Reichweiten-Booster, wie nicht nur der Selbstversuch zeigt, sondern auch alle Beispiele von bekannten Viral-Publishern. Die Zahl der Abrufe übersteigt dabei nicht selten ein Vielfaches der eigenen Fanzahlen.
Nun mag die bloße Reichweitensteigerung für Clickbuster durchaus nützlich sein. Wenn man Inhalte transportieren möchte, reicht das noch nicht. Auch wenn OMRs Selbstversuch relativ klein war, zeigte er Reaktionen, die die Nützlichkeit des Live-Votings relativieren: Facebook zählt einen Abruf ab einer Spielzeit von 3 Sekunden – länger ist das Gros der erreichten Nutzer auch nicht dran geblieben. Davon ab zeigte das Experiment auch kleine, aber statistisch überdurchschnittliche Negativreaktionen, bis hin zum Ent-Liken der ganzen Seite. Und auch die Zahl der Fans konnte durch die Aktion nicht signifikant gesteigert werden. Der Mitnahme-Effekt dieses kurzen Hochs ist recht gering.
Herausgezögertes Ablaufdatum
De facto verstoßen die Live-Abstimmungen, insbesondere auch Tools wie das oben gezeigte, gegen Facebooks AGB. Denn wie es in den Dos and Don’ts der Reactions heißt:
Da gehen einem direkt unzählige Beispiele durch den Kopf, die seit Beginn der Reactions konsequent gegen diese Nutzungsbedingungen verstoßen. Und Facebook geht nicht dagegen vor. Warum nicht? Weil es in der Praxis wichtige Erkenntnisse über die Anwendung und Verwertbarkeit neuer Produkte bringt.
Zweck heiligt die Mittel
Facebook liegt sehr viel an der Verbreitung des Streaming-Tools: Mitte des Jahres nahmen Zuckerbergs $ 50 Mio. in die Hand und verteilten sie an Prominente und Medienseiten, damit diese Facebook-Live exzessiver nutzen. Und auch vor der finanziellen Motivationsspritze beeindruckten Clickportale wie Unilad oder die Food-Seite Tasty mit monatlichen Views im Milliardenbereich. Ganz zu schweigen von Candace Paynes #ChewbaccaMom-Video, das zeigte, wie auch private Live-Videos durch die Decke gehen können und einen relevanten Impact für werbliche Zwecke bedeuten. Und wenn all das noch nicht reicht: Facebook versendet fleißig Pushs, sobald Fanpages mit Live-Videos online gehen.
Vor diesem Hintergrund wird man im Hause Zuckerberg sicher keine Maßnahmen gegen die Live-Abstimmungen treffen, sondern einfach nur interessiert beobachten, was so alles auf dem fruchtbaren Acker namens Facebook-Live alles wächst. Der einzige Korken, der den nervigen Flaschengeist wieder in die Lampe jagen könnte, sind die Nutzer, die langsam aber sicher von diesem Trend genervt sind. Bleibt zu hoffen, dass Nachrichtenportale jetzt nicht auf die Idee kommen, bei jeder politischen Frage das Streaming-Tool für populistische Umfragen zu missbrauchen.
Artikelbild: Socialmediakonzepte.de