Sieht aus wie Teleshopping, ist es aber nicht: In China hat sich Live-Shopping schon als erfolgreiches Sales-Format etabliert. Und auch in unseren Gefilden wird der Trend als Perspektivspieler des E-Commerce gehandelt. Wir haben uns genauer angeschaut, was sich da in China entwickelt hat und fragen dann: Wie erfolgreich kann das im Westen werden?
Interaktives Shopping lebt
Teleshopping hatte immer ein leicht schmuddeliges Image. Aber die scheinbar grenzenlosen Erfolge von Sendern wie QVC oder HSE24 gaben der Methode interaktiven Direktverkaufs Recht. Mit dem schleichenden Bedeutungsverlust des linearen Fernsehens endete jedoch auch das Goldene Zeitalter der Shopping-Kanäle.
Der digitale Nachfolger kommt aus China: Die Verbindung von Social-Sales und Live-Streaming firmiert unter Namen wie Live-Shopping, Live-Stream-Shopping oder Social-Shopping. Der Vergleich mit dem westlichen Teleshopping hinkt jedoch. Denn die Evolution des Live-Shoppings in China baut auf der Entwicklung des E-Commerce-Marktes selbst auf.
E-Commerce in China: Das 11.11-Phänomen
Taobao ist eine E-Commerce-Plattform, die bereits 2003 an den Start ging und oftmals als das chinesische Ebay aus dem Hause Alibaba beschrieben wird. Alibabas 11.11 Shopping-Festival 2015 offenbarte das Bedürfnis der Konsumenten, live zu interagieren. Der Taobao-App wurde daher eine Streaming-Funktion hinzugefügt und die Möglichkeit, live zu reagieren – Taobao-Live war geboren.
Bevor wir hier weitermachen: Eine kleine Erklärung, wo E-Commerce in China herkommt. Und vor allem, welche Rolle Alibabas 11.11-Event dabei einnimmt. Damit zeichnet sich schon einmal ab, wieso wir die Erfolge aus Fernost nicht ohne Weiteres importieren können.
Taobao-Live: Wie Twitch, nur als Industrie
Nach und nach etablierten sich über die Streaming-Funktion sogenannte Key Opinion Leader (KOL), im Grunde Influencer, welche die App für Produkttests und Erfahrungsberichte nutzten. Die Anfangszeit wird gerne mit Twitch verglichen, denn die KOLs tauschten sich intensiv mit Nutzern live aus und erhielten Zuwendungen, beispielsweise in Form virtueller Währung oder Gifts.
Heute operiert Taobao-Live auf einem industriellen Level, von dem man in den USA oder Europa noch Lichtjahre entfernt ist. 2020 vermeldete Alibaba für die Absätze via Taobao-Live ein Bruttowarenvolumen von 60 Mrd. Dollar.
“Super-Apps” + Live-Streaming = Erfolg
Gerade in China, das extrem harte Lockdowns durchlebte, entpuppte sich die Pandemie als Katalysator für den raschen Erfolgsanstieg. Das Live-Shopping kompensierte offensichtlich auch das Bedürfnis nach mehr sozialer Interaktion.
Der eigentliche Game-Changer war jedoch vorher bereits die Verbindung des Live-Streamings mit den sogenannten Super-Apps: Die Kombination verschiedener Services in einer App schafft ein mehr oder minder geschlossenes Konsum-Ökosystem (Bezahldienste, Bewertungssysteme, (Video-)Messenger, Suchmaschinen, Produktangebote und Shopping-Funktionen usw.). Taobao-Live hat den Weg geebnet, aber mittlerweile haben auch weitere Super-Apps ihr Portfolio um das Live-Streaming erweitert.
Wieviel Exportschlager steckt in dem Trend?
Bevor wir auch nur in die Nähe eines Fazits kommen: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass man die Erfolge aus dem Reich der Mitte in westlichen Ländern 1:1 kopiert kann. Der Boom wird von einer komplexen Ökosphäre verschiedenster Dienste gestützt, die im Westen aus verschiedensten Gründen so nicht existieren könnte. Unter europäischen Datenschutzbestimmungen lassen sich unterschiedliche Dienste, die mit sensiblen Daten innerhalb einer App operieren, so nicht kombinieren. Und auch die Interaktion der Teilstreitkräfte von Marketing und Sales über IT und Infrastruktur bis Logistik und Warenwirtschaft würden in Europa an wettbewerbsrechtliche Grenzen stoßen.
Blick in den Westen
Dass die chinesische Blaupause im Westen nicht identisch kopiert werden kann, bedeutet aber nicht das Aus für einen Erfolg im Westen. Es bedeutet lediglich, dass sich strukturell eine westliche Variante erst noch entwickeln muss. Und zwar unter den Prämissen, die durch unsere Rechtsnormen vorgegeben werden.
Wichtig erscheint uns auch die Art, wie Social-Media-Formate genutzt werden, zu überdenken. Wir behandeln in diesem Blog-Post bewusst keine europäischen oder andere westliche Beispiele für Live-Shopping. Was da zur Zeit angeboten wird, ist weit entfernt von den asiatischen Originalen. Und aktuelle Beispiele machen leider keine Hoffnung auf eine schnelle Adaption. Nach desaströsen Erfahrungen, die Bytedance mit der Einführung von TikTok-Shopping in Großbritannien gemacht hat, wurden die Pläne für den US-Markt zunächst auf Eis gelegt.
Mittel gegen Krise?
Eine aktuelle Studie der Gelben Seiten bestätigt jedoch: Die Relevanz von Social Media als Vertriebskanal ist mittlerweile auch im Bewusstsein der Unternehmen angekommen. Die Pandemie war sicher ein Booster für diese Entwicklung, aber nicht der initiale Grund. Der stationäre Verkauf steckt nicht erst seit gestern in der Krise. Positive Absatzentwicklungen sind dabei meist den Online-Kanälen zu verdanken und genau dort zeigt sich das Live-Shopping als zugstarker Perspektivspieler.
Aussichten
Dass sich die Taobao-Live-Story im Westen wiederholen wird, müssen wir zwar nicht erwarten. Trotzdem stecken dort viele Lösungsansätze drin, die auch für westliche Vertriebsmärkte interessant sein können. Eine Sache bleibt wirklich als kopierwürdig hängen: die Idee, dass es langfristig keinen erfolgreichen E-Commerce ohne Wiederbelebung des stationären Handels geben kann, darf sich gerne auch hier stärker verbreiten.
Take Aways:
- Die Kopie des chinesischen Erfolgsmodells ist aufgrund der infrastrukturellen, datenschutzrechtlichen und konsumkulturellen Unterschiede unrealistisch.
- Es ist ratsam, von der Vorstellung Abstand zu nehmen, Live-Shopping wäre einfach eine Weiterentwicklung des Teleshoppings. Das schmälert den Blick auf die Entwicklungschancen und übersieht, wie grenzübergreifend der Einsatz von unterschiedlichen Diensten ist.
- Im Westen fehlt es noch an der Experimentierfreude, die Formate funktional auszudifferenzieren. Live-Shopping in Europa/USA erinnert meist noch eher an Content-Marketing.
- Der chinesischen Entwicklungseuphorie sind im Westen zum Glück datenschutz- und wettbewerbsrechtliche Bedingungen vorgesetzt. Wo es im Westen Spielräume oder regulative Entwicklungsmöglichkeiten gibt, ist unserem Empfinden nach noch recht vage.
- Wie viel vermeintlichen Komfort wir für die viel beschworene positive User-Experience wollen, sollte kritisch hinterfragt werden. Gerade auch wegen der Frage, wohin der Weg der Super-Apps im Westen führen soll.
Artikelbild: tommao wang / unsplash
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